Buchmendel (Zweig)
Kurze Zusammenfassung
Wien, etwa 1915-1920. Der Erzähler suchte während eines Regengusses Schutz im Café Gluck. Plötzlich erinnerte er sich, dass hier jahrzehntelang Jakob Mendel gesessen hatte.
Mendel besaß ein unvergleichliches Gedächtnis für Bücher und diente Sammlern und Wissenschaftlern als lebendiger Katalog. Über dreißig Jahre saß er täglich am selben Tisch, völlig versunken in seine Bücherwelt. 1915 wurde er verhaftet, weil er als russischer Staatsbürger Postkarten nach Frankreich und England geschickt hatte. Man sperrte ihn zwei Jahre in ein Konzentrationslager.
Nach seiner Rückkehr 1917 war Mendel gebrochen. Sein legendäres Gedächtnis funktionierte nicht mehr richtig. Der neue Cafébesitzer Gurtner warf ihn hinaus, als er beim Stehlen von Semmeln erwischt wurde. Kurz darauf starb Mendel an Lungenentzündung. Im Café erinnerte sich niemand mehr an ihn.
Wozu lebt man, wenn der Wind hinter unserm Schuh schon die letzte Spur von uns wegträgt? ... und man wußte im Café Gluck nichts mehr von Jakob Mendel, dem Buchmendel!
Nur die alte Toilettenfrau erinnerte sich noch an ihn und hatte ein Buch aufbewahrt, das er zurückgelassen hatte. Der Erzähler schämte sich, dass er Mendel so lange vergessen hatte.
Detaillierte Zusammenfassung
Die Einteilung in Kapitel ist redaktionell.
Rückkehr ins Café und erwachende Erinnerungen
An einem regnerischen Tag in Wien suchte ein Schriftsteller Schutz vor einem plötzlichen Regenguss und flüchtete sich in ein nahegelegenes Café. Es handelte sich um ein typisches Vorstadtcafé altwienerischer Prägung, vollgefüllt mit kleinen Leuten, die mehr Zeitungen konsumierten als Gebäck. Der Raum war mit blauen Rauchkringeln erfüllt, wirkte aber sauber mit seinen neuen Samtsofas und der aluminiumhellen Zahlkasse.
Während er ungeduldig durch die beschlagenen Scheiben blickte und auf das Ende des Regens wartete, verfiel er in jene träge Passivität, die jedem echten Wiener Kaffeehaus entströmt. Er betrachtete die anderen Gäste, beobachtete das Fräulein an der Kasse und las die gleichgültigen Plakate an den Wänden. Plötzlich wurde er aus seiner Halbschläfrigkeit gerissen - eine innere Unruhe begann in ihm, ein dumpfes Spannen, eine geistige Unruhe. Ihm wurde bewusst, dass er hier schon einmal vor Jahren gewesen sein musste, durch irgendeine Erinnerung mit diesen Wänden, Stühlen und Tischen verbunden.
Je mehr er seinen Willen anstrengte, diese Erinnerung zu fassen, desto boshafter wich sie zurück wie eine Qualle auf dem Grund des Bewusstseins. Er klammerte seinen Blick an jeden Gegenstand der Einrichtung, erkannte manches nicht wie die Kasse mit ihrem klirrenden Zahlungsautomaten oder den braunen Wandbelag. Aber er spürte, dass hier etwas von seinem eigenen, längst überwachsenen Ich haftete. Gewaltsam streckte er alle seine Sinne vor in den Raum und gleichzeitig in sich hinein, doch er konnte die verschollene Erinnerung nicht erreichen.
Aus Ärger über dieses Versagen stand er auf und machte die ersten Schritte durch das Lokal. Da begann es schon zu flimmern und zu funkeln in ihm. Rechts von der Zahlkasse musste es in einen fensterlosen, nur von künstlichem Licht erhellten Raum gehen. Tatsächlich war da das rechteckige Hinterzimmer, das Spielzimmer, anders tapeziert als damals, aber in den gleichen Proportionen.
Die erste Begegnung mit Jakob Mendel
In der Ecke beim eisernen Ofen, dort wo man zur Telefonzelle ging, stand ein kleiner viereckiger Tisch. Da blitzte es ihn plötzlich durch und durch. Er wusste sofort: Das war Jakob Mendels Platz, Buchmendels, und er war nach zwanzig Jahren wieder in sein Hauptquartier geraten, in das Café Gluck in der oberen Alserstraße. Wie hatte er ihn vergessen können, diesen sonderbarsten Menschen und sagenhaften Mann, dieses abseitige Weltwunder, den Magier und Makler der Bücher, der hier täglich von morgens bis abends gesessen hatte.
Ein älterer Kollege von der Universität hatte ihn zu Mendel geführt.
Der Erzähler hatte damals über den Arzt und Magnetiseur Mesmer geforscht, aber mit wenig Glück, da die Werke unzulänglich waren und der Bibliothekar unfreundlich. Der Kollege versprach ihm: "Ich geh mit dir zu Mendel, der weiß alles und verschafft alles, der holt dir das entlegenste Buch aus dem vergessensten deutschen Antiquariat heran." So gingen sie zu zweit ins Café Gluck, und da saß er, Buchmendel, bebrillt, bartumschludert, schwarz angetan, und wiegte sich lesend wie ein dunkler Busch im Wind.
Mendels außergewöhnliches Gedächtnis und sein Leben im Café
Als der Freund hustete und auf die Tischplatte klopfte, starrte Mendel endlich auf und schob die ungefüge stahlgeränderte Brille mechanisch die Stirn empor. Unter den weggesträubten aschgrauen Brauen stachen zwei merkwürdige Augen entgegen, kleine, schwarze, wache Augen, flink, spitz und flippend wie eine Schlangenzunge. Der Erzähler erläuterte sein Anliegen und beklagte sich über den unhilfreichen Bibliothekar. Mendel lachte nur kurz: "Nicht gewollt hat er? Nein - nicht gekonnt hat er! Ein Parch is er, ein geschlagener Esel mit graue Haar."
Sobald der Erzähler seine Wünsche nach zeitgenössischen Werken über Magnetismus sowie späteren Büchern über Mesmer erklärte, kniff Mendel eine Sekunde das linke Auge zusammen wie ein Schütze vor dem Schuss. Dann zählte er sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog lesend, zwei oder drei Dutzend Bücher fließend auf, jedes mit Verlagsort, Jahreszahl und ungefährem Preis. Der Erzähler war verblüfft über dieses bibliothekarische Phänomen.
In diesem kleinen galizischen Büchertrödler Jakob Mendel hatte ich zum erstenmal als junger Mensch das große Geheimnis der restlosen Konzentration gesehen
Als der Erzähler höflich vorschlug, ihm die gewünschten Buchtitel auf einen Zettel zu notieren, warf ihm Mendel einen triumphierenden und beleidigten, höhnischen und überlegenen Blick zu - einen geradezu königlichen Blick. Dann lachte er abermals kurz, denn nur ein Ahnungsloser konnte eine derart beleidigende Zumutung stellen, ihm, Jakob Mendel, einen Buchtitel aufzunotieren wie einem Buchhandlungslehrling, als ob dieses unvergleichliche, diamantene Buchgehirn solch grober Hilfsmittel jemals bedurft hätte.
Hinter dieser kalkigen, schmutzigen, von grauem Moos überwucherten Stirn stand in der unsichtbaren Geisterschrift jeder Name und Titel wie mit Stahlguß eingestanzt
Jakob Mendel war ein Titan des Gedächtnisses. Er wusste von jedem Werk, dem gestern erschienenen wie von einem zweihundert Jahre alten, auf den ersten Hieb genau den Erscheinungsort, den Verfasser, den Preis. Er erinnerte sich bei jedem Buch mit fehlerloser Vision zugleich an Einband und Illustrationen. Dieses Gedächtnis hatte sich nur durch das ewige Geheimnis jeder Vollendung schulen können: durch Konzentration. Außerhalb der Bücher wusste dieser merkwürdige Mensch nichts von der Welt.
Dem Beruf nach galt Jakob Mendel nur als kleiner Buchschacherer. Allsonntags erschienen in den Zeitungen seine stereotypen Anzeigen: "Kaufe alte Bücher, zahle beste Preise, komme sofort, Mendel, obere Alserstraße". Er stöberte Lager durch, schleppte mit einem alten kaiserbärtigen Dienstmann allwöchentlich neue Beute in sein Hauptquartier. Das Geld hatte keinen Raum innerhalb seiner Welt; nie hatte man ihn anders gesehen als im gleichen abgeschabten Rock, früh, nachmittags und abends seine Milch verzehrend und zwei Brote, mittags eine Kleinigkeit essend.
Er war hoch angesehen im Café Gluck, dessen Ruhm sich mehr an sein unsichtbares Katheder knüpfte als an die Patenschaft des hohen Musikers Christoph Willibald Gluck. Er gehörte dort ebenso zum Inventar wie die alte Kirschholzkasse und die beiden geflickten Billarde. Sein Tisch wurde gehütet wie ein Heiligtum, denn seine zahlreichen Kundschaften wurden vom Personal zu Bestellungen gedrängt, so dass der größere Gewinnteil seiner Wissenschaft dem Oberkellner Deubler in die Ledertasche floss.
Dafür genoss Buchmendel vielfache Privilegien. Das Telefon stand ihm frei, man hob ihm seine Briefe auf und besorgte alle Bestellungen. Punkt halb acht Uhr morgens trat er ein, und erst wenn man die Lichter auslöschte, verließ er das Lokal. Eigentlich hatte er mehr als dreißig Jahre, den ganzen wachen Teil seines Lebens, einzig hier an diesem viereckigen Tisch lesend, vergleichend, kalkulierend verbracht, in einem unablässig fortgesetzten, nur vom Schlaf unterbrochenen Dauertraum.
Die Verhaftung während des Ersten Weltkriegs
Auf dem militärischen Zensuramt war eines Tages eine Postkarte abgefangen worden, geschrieben von einem gewissen Jakob Mendel, adressiert an Jean Labourdaire, Buchhändler in Paris. Mendel beschwerte sich darin, die letzten acht Nummern des "Bulletin bibliographique de la France" trotz vorausgezahltem Jahresabonnement nicht erhalten zu haben. Der eingestellte Zensurbeamte, ein Gymnasialprofessor im blauen Landsturmrock, staunte über dieses absurde Faktum.
Nach einigen Wochen kam abermals eine Karte desselben Jakob Mendel an einen Bookseller in London. Nun wurde dem Gymnasialprofessor doch eng unter dem Rock. Er legte dem Major die beiden Karten vor, der die Polizei avisierte. Eine Stunde später war Jakob Mendel dingfest gemacht und wurde vor den Major geführt. Erregt durch den strengen Ton polterte Mendel beinahe grob, natürlich habe er diese Karten geschrieben. Man habe wohl noch das Recht, ein Abonnement zu reklamieren.
Bei der dritten Frage kam etwas Verhängnisvolles zutage. Mendel nannte als Geburtsort einen kleinen Ort bei Petrikau in Russisch-Polen. Der Major zog die Brauen hoch - verdächtig! Er inquirierte strenger: Wann er die österreichische Staatsbürgerschaft erworben habe? Mendel verstand nicht recht. Seelenruhig erwiderte er: Sein Vater sei natürlich Russe gewesen, und er selbst habe sich vor dreiunddreißig Jahren über die russische Grenze geschmuggelt, seither lebe er in Wien. Er habe sich um solche Sachen nie gekümmert, sei also noch russischer Staatsbürger.
Der Major warf sich so brüsk erschrocken zurück, dass der Sessel knackte. In Wien ging mitten im Krieg ein Russe unbehelligt spazieren, schrieb Briefe nach Frankreich und England! Jakob Mendel wurde dem Garnisonsgefängnis überantwortet, um mit dem nächsten Schub in ein Konzentrationslager abgeführt zu werden. Als man ihm bedeutete, den beiden Soldaten zu folgen, starrte er ungewiss. Er verstand nicht, was man von ihm wollte. In seiner oberen Welt der Bücher gab es keinen Krieg, kein Nichtverstehen, sondern nur das ewige Wissen.
Mendels Rückkehr aus dem Konzentrationslager
Was Jakob Mendel in diesen zwei Jahren Konzentrationslager an seelischer Schrecknis erfahren hatte, ohne Bücher, ohne Geld, inmitten gleichgültiger, grober, meist analphabetischer Gefährten - hierüber fehlte jede Zeugenschaft. Knapp rechtzeitig holte ihn ein Zufall in seine Welt zurück. Mehrmals waren nach seinem Verschwinden Briefe von vornehmen Kunden gekommen: Graf Schönberg, der ehemalige Statthalter von Steiermark und fanatische Sammler heraldischer Werke, sowie andere treue Klienten.
Diese Briefe fielen einem gutgesinnten Hauptmann in die Hände, der erstaunte, was für vornehme Bekanntschaften dieser kleine, halbblinde schmutzige Jude hatte. Mit der leidenschaftlichen Solidarität aller Sammler kurbelten die Exzellenz sowie der Dekan ihre Verbindungen an, und ihre vereinte Bürgschaft erreichte, dass Buchmendel im Jahre 1917 nach mehr als zweijähriger Konfinierung wieder nach Wien zurück durfte, unter der Bedingung, sich täglich bei der Polizei zu melden.
Ein Verbrechen an der Zivilisation, gleich sinnlos begangen in Frankreich, Deutschland und England, auf jeder Scholle unseres irrwitzig gewordenen Europa
Die Rückkehr Mendels aus seiner höllischen Unterwelt konnte die brave Frau Sporschil aus eigener Erfahrung schildern. Eines Tages schob sich die Tür auf, und herein kam der arme Herr Mendel. Einen zerschundenen Militärmantel voller Stopfen hatte er angehabt und etwas am Kopf, was vielleicht einmal ein Hut war. Wie der Tod hatte er ausgesehen, grau im Gesicht und grau das Haar, und so mager, dass es einen erbarmte.
Verfall und schmähliches Ende
Er war nicht derselbe mehr, nicht das Miraculum mundi, die magische Registratur aller Bücher. Irgend etwas schien rettungslos zerstört in seinem sonst stillen Blick.
Irgend etwas schien rettungslos zerstört in seinem sonst stillen, nur wie schlafend lesenden Blick; etwas war zertrümmert
In dem phantastischen Kunstbau seines Gedächtnisses musste irgendein Pfeiler eingestürzt sein. Wenn ab und zu jemand um Auskunft kam, starrte er ihn erschöpft an und verstand nicht mehr genau. Mendel war nicht mehr Mendel, nicht mehr ein Wunder der Welt, sondern ein müd atmender, nutzloser Pack Bart und Kleider, ein unbequemer, unnötiger Schmarotzer.
Mendel war nicht mehr Mendel, wie die Welt nicht mehr die Welt war
Das Gespräch mit Frau Sporschil über Mendels Schicksal
So empfand ihn auch der neue Besitzer, Florian Gurtner aus Retz, der an Mehl- und Butterschiebungen im Hungerjahr 1919 reich geworden war.
Er hatte dem biederen Standhartner das Café Gluck abgeschwatzt und wartete nur auf einen Vorwand, um diesen letzten lästigen Rest vorstädtischer Schäbigkeit hinauszukehren.
Der Oberkellner ertappte Jakob Mendel dabei, wie er heimlich aus einem Brotkorb zwei Semmeln nahm und sie gierig in sich hineinstopfte. Gurtner brüllte Mendel vor allen Leuten an, beschuldigte ihn des Diebstahls und befahl ihm, sogleich und für immer sich zum Teufel zu scheren. Jakob Mendel zitterte nur, sagte nichts, stolperte auf von seinem Sitz und ging. Später kam er noch einmal zurück, verwirrt und schlafwandlerisch, brach zusammen und starb am selben Abend an Lungenentzündung.
Es hat ihn halt nur so hergetrieben, als einen Schlafeten. ... wenn man sechsunddreißig Jahr einmal so gesessen ist jeden Tag, dann ist eben so ein Tisch einem sein Zuhaus
Denn man Bücher nur schafft, um über den eigenen Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen ... Vergänglichkeit und Vergessensein