Der Barbierjunge von Segringen (Hebel)
Die Einteilung in Abschnitte ist redaktionell.
Die Ankunft des Fremden und seine gefährliche Herausforderung
Im Wirtshaus zu Segringen erschien eines Tages ein Fremder von der Armee. Er hatte einen starken Bart und sah seltsam und nicht vertrauenswürdig aus. Bevor er etwas zu essen oder zu trinken bestellte, fragte er den Wirt, ob es im Ort einen Barbier gebe, der ihn rasieren könne.
Der Wirt bejahte und holte den örtlichen Barbier. Als dieser eintraf, stellte der Fremde ihm eine ungewöhnliche und gefährliche Bedingung.
»Ihr sollt mir den Bart abnehmen, aber ich habe eine kitzliche Haut. Wenn Ihr mich nicht ins Gesicht schneidet, so bezahl' ich Euch vier Kronentaler. Wenn Ihr mich aber schneidet, so stech' ich Euch tot.«
Die Ablehnung durch den Barbier und seinen Gesellen
Der Barbier erschrak, als er diese Drohung hörte. Der Fremde machte ein ernstes Gesicht, und auf dem Tisch lag ein spitzes, kaltes Eisen. Voller Angst floh der Barbier aus dem Wirtshaus und schickte stattdessen seinen Gesellen.
Der Fremde wiederholte seine Bedingung gegenüber dem Gesellen. Auch dieser erschrak und floh, genau wie sein Meister. Als letzten Ausweg schickte er den Lehrjungen zum Wirtshaus.
Der mutige Entschluss des Lehrjungen
Der Lehrjunge hörte sich die gleiche Bedingung an, doch anders als sein Meister und der Geselle ließ er sich von der Aussicht auf vier Kronentaler blenden. Er überlegte, dass er sich für dieses Geld einen neuen Rock für die Kirchweihe und einen Schnepper kaufen könnte, wenn er den Fremden nicht schneiden würde.
Der Lehrjunge läßt sich blenden von dem Geld und denkt: »Ich wag's. Geratet es und ich schneide ihn nicht, so kann ich mir für vier Kronentaler einen neuen Rock auf die Kirchweihe kaufen und einen Schnepper.«
Aber der Lehrjunge hatte auch einen Plan für den Fall, dass etwas schiefgehen sollte. Er dachte: "Geratet's nicht, so weiß ich, was ich tue" und begann, den Fremden zu rasieren. Der Mann hielt ruhig still, ohne zu ahnen, in welcher Todesgefahr er sich befand.
Der verwegene Lehrjunge bewegte das Messer mit erstaunlicher Kaltblütigkeit im Gesicht des Fremden und um seine Nase herum. Er tat dies, als ginge es nur um einen Sechser oder im Falle eines Schnittes um ein Stück Zundel oder Fließpapier, und nicht um vier Kronentaler und ein Menschenleben.
Die erfolgreiche Rasur und die Enthüllung des Gegenplans
Glücklicherweise gelang es dem Lehrjungen, den Bart des Fremden vollständig zu entfernen, ohne ihn auch nur einmal zu schneiden. Als er fertig war, dachte er erleichtert: "Gottlob!" Der Fremde stand auf, betrachtete sich im Spiegel und trocknete sein Gesicht ab.
Dann gab er dem Jungen die versprochenen vier Kronentaler und fragte ihn verwundert, woher er den Mut genommen habe, ihn zu rasieren, während sein Meister und der Geselle davongelaufen waren. Er erinnerte den Jungen daran, dass er ihn erstochen hätte, wenn dieser ihn geschnitten hätte.
»Gnädiger Herr, Ihr hättet mich nicht verstochen, sondern wenn Ihr gezuckt hättet und ich hätt' Euch ins Gesicht geschnitten, so wär' ich Euch zuvorgekommen, hätt' Euch augenblicklich die Gurgel abgekauen und wäre aufund davongesprungen.«
Der Lehrjunge bedankte sich lächelnd für das Geld und enthüllte seinen Gegenplan: Wenn der Fremde gezuckt hätte und er ihn ins Gesicht geschnitten hätte, wäre er ihm zuvorgekommen. Er hätte dem Fremden sofort die Kehle durchgeschnitten und wäre geflohen.
Der erschrockene Fremde und die Lehre der Geschichte
Als der Fremde diese Worte hörte und erkannte, in welcher Gefahr er sich befunden hatte, wurde er blass vor Schreck und Todesangst. Die Vorstellung, dass der Junge einen so kaltblütigen Plan gehabt hatte, erschütterte ihn zutiefst.
Aus Dankbarkeit und Erleichterung schenkte er dem Barbierjungen noch einen zusätzlichen Kronentaler. Seit diesem Erlebnis hat der Fremde nie wieder zu einem Barbier gesagt: "Ich steche dich tot, wenn du mich schneidest." Die Geschichte lehrt, dass man weder Gott noch die Menschen versuchen sollte.