Der Wacholderbaum (Grimm)
Kurze Zusammenfassung
Vor etwa zweitausend Jahren lebte ein reicher Mann mit seiner Frau, die sich sehr ein Kind wünschte. Unter einem Machandelbaum schnitt sie sich beim Apfelschälen in den Finger und wünschte sich ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Neun Monate später bekam sie einen Sohn, starb aber bei der Geburt. Der Mann begrub sie unter dem Machandelbaum und heiratete später wieder.
Die zweite Frau bekam eine Tochter namens Marleenken, hasste aber den Stiefsohn. Eines Tages lockte sie ihn mit einem Apfel, und als er in die Truhe griff, schlug sie den Deckel zu und enthauptete ihn. Sie kochte den Jungen in Sauer, und der ahnungslose Vater aß das Gericht mit Genuss.
Marleenken sammelte weinend die Knochen ihres Bruders und legte sie in ein seidenes Tuch unter den Machandelbaum. Plötzlich verwandelten sich die Knochen in einen schönen Vogel, der davonflog und ein Lied sang:
»mein Mutter der mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Machandelbaum.
Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!«
Der Vogel erhielt von einem Goldschmied eine goldene Kette, von einem Schuster rote Schuhe und von Müllern einen Mühlstein. Er flog zum Haus zurück, gab dem Vater die Kette und Marleenken die Schuhe. Als die Stiefmutter herauskam, warf er ihr den Mühlstein auf den Kopf und tötete sie. In dem Moment verwandelte sich der Vogel zurück in den Jungen, und die drei lebten glücklich zusammen.
Detaillierte Zusammenfassung
Die Einteilung in Kapitel ist redaktionell.
Das kinderlose Paar und die Geburt eines Sohnes
Vor langer Zeit lebte ein reicher Mann mit seiner schönen und frommen Frau. Sie liebten einander sehr, hatten jedoch keine Kinder, obwohl sie sich sehnlichst welche wünschten. Die Frau betete Tag und Nacht darum, doch sie bekamen keine.
»Ach«, säd de Fru, un süft'd so recht hoog up un seeg dat Blood vör sik an un wöör so recht wehmödig, »hadd ik doch een Kind, so rood as Blood un so witt as Snee.«
Eines Winters stand die Frau unter dem Machandelbaum in ihrem Hof und schälte einen Apfel. Dabei schnitt sie sich in den Finger und das Blut fiel in den Schnee. Als sie das sah, wünschte sie sich ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee. Nach diesem Wunsch wurde ihr froh zumute. Ein Monat verging, der Schnee schmolz. Nach zwei Monaten wurde alles grün, nach drei Monaten kamen die Blumen aus der Erde, nach vier Monaten trieben die Bäume aus und die Vögel sangen. Im fünften Monat stand die Frau unter dem duftenden Machandelbaum und freute sich so sehr, dass sie auf die Knie fiel. Im sechsten Monat wurden die Früchte dick und stark, und die Frau wurde still. Im siebten Monat aß sie gierig Machandelbeeren und wurde traurig und krank. Im achten Monat rief sie ihren Mann und bat ihn, sie unter dem Machandelbaum zu begraben, falls sie sterben sollte. Im neunten Monat bekam sie einen Sohn, so weiß wie Schnee und so rot wie Blut. Als sie ihn sah, freute sie sich so sehr, dass sie starb.
Der Mann begrub seine Frau unter dem Machandelbaum und weinte bitterlich. Nach einiger Zeit nahm er sich eine zweite Frau, mit der er eine Tochter bekam. Der Sohn seiner ersten Frau war so rot wie Blut und so weiß wie Schnee.
Das Verbrechen der Stiefmutter: Mord und Vertuschung
Die zweite Frau liebte ihre eigene Tochter sehr, doch wenn sie den kleinen Jungen ansah, ging es ihr durch das Herz. Sie empfand, dass er ihr überall im Weg stand, und dachte nur daran, wie sie das ganze Vermögen ihrer Tochter zuwenden könnte. Der Böse gab ihr ein, dass sie dem Jungen gegenüber feindselig wurde und ihn herumstieß, sodass das arme Kind immer in Angst lebte und nach der Schule keine Ruhe fand.
Eines Tages kam die kleine Tochter zu ihrer Mutter in die Kammer und bat um einen Apfel. Die Mutter gab ihr einen schönen Apfel aus der Kiste mit dem schweren Deckel und scharfen Eisenschloss. Als die Tochter fragte, ob ihr Bruder auch einen haben könne, verdross das die Frau, doch sie sagte ja. Als sie sah, dass der Junge kam, überkam sie der Böse. Sie nahm ihrer Tochter den Apfel weg und sagte, der Bruder solle ihn bekommen, wenn er aus der Schule käme.
Als der Junge kam, sprach die Frau freundlich zu ihm und bot ihm einen Apfel an. Sie öffnete die Kiste und forderte ihn auf, sich selbst einen Apfel zu nehmen. Als er sich hineinbeugte, schlug sie den Deckel zu, sodass sein Kopf abfiel und unter die roten Äpfel rollte. In ihrer Angst dachte sie daran, wie sie die Tat verbergen könnte. Sie setzte den Kopf wieder auf den Hals, band ein weißes Tuch darum, setzte ihn mit dem Apfel in der Hand vor die Tür auf einen Stuhl.
Später kam Marleenken zu ihrer Mutter in die Küche und sagte, dass ihr Bruder ganz weiß vor der Tür säße und nicht antworten wolle. Die Mutter schickte sie zurück und sagte, wenn er nicht antworten wolle, solle sie ihm eine Ohrfeige geben. Als Marleenken dies tat, fiel der Kopf herunter. Das Mädchen erschrak, weinte und lief zu seiner Mutter. Die Mutter beruhigte sie und beschloss, den Jungen in Sauer zu kochen. Marleenken weinte so sehr, dass ihre Tränen in den Topf fielen und sie kein Salz brauchten.
Marleenkens Trauer und die magische Verwandlung
Als der Vater nach Hause kam, fragte er nach seinem Sohn. Die Mutter trug eine große Schüssel mit Schwarzsauer auf, und Marleenken weinte unaufhörlich. Der Vater fragte erneut nach seinem Sohn, und die Mutter erklärte, er sei über Land zu seinem Großonkel gegangen und wolle dort sechs Wochen bleiben. Der Vater war traurig, dass sein Sohn sich nicht von ihm verabschiedet hatte.
Der Vater begann zu essen und fand das Essen besonders gut. Er verlangte mehr und mehr, bis er alle Knochen unter den Tisch geworfen hatte. Marleenken ging zu ihrer Kommode, nahm ihr bestes seidenes Tuch heraus, sammelte alle Knochen unter dem Tisch und band sie in das Tuch. Sie trug sie weinend vor die Tür und legte sie unter den Machandelbaum ins grüne Gras. Plötzlich wurde ihr leicht zumute und sie hörte auf zu weinen.
Door läd se se ünner den Machandelboom in dat gröne Gras, un as se se door henlechd hadd, so war ehr mit eenmaal so recht licht, und weend nich mer. Do füng de Machandelboom an sik to bewegen, un de Twyge deden sik jümmer so recht.
Der Machandelbaum begann sich zu bewegen, und die Zweige teilten sich und fügten sich wieder zusammen. Ein Nebel stieg vom Baum auf, und in dem Nebel brannte es wie Feuer. Aus dem Feuer flog ein schöner Vogel heraus, der herrlich sang und hoch in die Luft flog. Als er weg war, war der Machandelbaum wieder wie zuvor, und das Tuch mit den Knochen war verschwunden. Marleenken fühlte sich leicht und froh, als ob ihr Bruder noch leben würde, und ging vergnügt ins Haus zurück.
Der singende Vogel und die drei Geschenke
Der Vogel flog davon und setzte sich auf das Haus eines Goldschmieds. Dort begann er zu singen: "Mein Mutter der mich schlacht, mein Vater der mich aß, mein Schwester der Marlenichen sucht alle meine Benichen, bindt sie in ein seiden Tuch, legt's unter den Machandelbaum. Kywitt, kywitt, wat vör'n schöön Vagel bün ik!"
Der Goldschmied hörte den Gesang und fand ihn so schön, dass er den Vogel bat, das Lied noch einmal zu singen. Der Vogel erklärte, dass er nicht zweimal umsonst singe. Der Goldschmied bot ihm eine goldene Kette an, und der Vogel sang sein Lied erneut. Dann nahm er die Kette in die rechte Kralle und flog davon.
Der Vogel flog zu einem Schuster und sang sein Lied. Der Schuster war so beeindruckt, dass er seine Familie rief, um den schönen Vogel zu sehen. Er hatte rote und grüne Federn, und um seinen Hals glänzte es wie Gold. Der Schuster bat den Vogel, noch einmal zu singen, und der Vogel verlangte ein Geschenk. Die Frau des Schusters holte ein Paar rote Schuhe, und der Vogel sang sein Lied erneut. Dann nahm er die Schuhe in die linke Kralle und flog weiter.
Schließlich flog der Vogel zu einer Mühle, wo zwanzig Mühlenburschen einen Stein behauten. Er setzte sich auf eine Linde vor der Mühle und begann zu singen. Nach und nach hörten alle Mühlenburschen mit ihrer Arbeit auf, um dem Vogel zu lauschen. Als er fertig war, bat der letzte Mühlenbursche ihn, noch einmal zu singen. Der Vogel verlangte den Mühlenstein als Geschenk und versprach, dann erneut zu singen. Die Mühlenburschen hoben gemeinsam den schweren Stein hoch, und der Vogel steckte seinen Hals durch das Loch und trug den Stein wie einen Kragen. Dann sang er sein Lied noch einmal und flog mit der Kette in der rechten Kralle, den Schuhen in der linken und dem Mühlenstein um den Hals zum Haus seines Vaters.
Rache und Auferstehung
In der Stube saßen der Vater, die Mutter und Marleenken bei Tisch. Der Vater sagte, er fühle sich leicht und ihm sei so wohl zumute. Die Mutter hingegen war ängstlich, als ob ein schweres Gewitter käme. Marleenken saß in der Ecke und weinte. Da kam der Vogel angeflogen und setzte sich auf das Dach.
Der Vater freute sich und sagte, ihm sei so freudig zumute, als würde er einen alten Bekannten wiedersehen. Die Mutter zitterte vor Angst, und Marleenken weinte in ihrer Ecke. Der Vogel begann zu singen: "Mein Mutter der mich schlacht". Die Mutter hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen, wollte nichts hören und sehen. "Mein Vater der mich aß", sang der Vogel weiter.
»Ach, Moder«, secht de Mann, »door is en schöön Vagel, de singt so herrlich, de Sünn schynt so warm, un dat rückt as luter Zinnemamen.« Do läd Marleenken den Kopp up de Knee un weend in eens wech.
Der Mann ging hinaus, um den Vogel zu sehen, und der Vogel ließ die goldene Kette fallen, die genau um den Hals des Mannes passte. Er ging wieder hinein und erzählte, wie schön der Vogel sei und dass er ihm eine goldene Kette geschenkt habe. Die Frau war so ängstlich, dass sie ohnmächtig wurde. Der Vogel sang weiter, und Marleenken ging hinaus, um zu sehen, ob der Vogel auch ihr etwas schenken würde. Der Vogel warf ihr die roten Schuhe herunter. Sie zog die Schuhe an und tanzte fröhlich ins Haus.
Die Mutter sprang auf und sagte, ihr sei, als solle die Welt untergehen, und ging hinaus. In diesem Moment warf der Vogel ihr den Mühlenstein auf den Kopf, sodass sie ganz zerquetscht wurde. Der Vater und Marleenken hörten den Lärm und gingen hinaus. Da stieg Rauch, Flamme und Feuer von der Stelle auf, und als das vorbei war, stand der kleine Bruder da. Er nahm seinen Vater und Marleenken bei der Hand, und alle drei waren glücklich und gingen ins Haus zum Essen.
Do güng en Damp un Flamm un Führ up von der Städ, un as dat vörby wöör, do stünn de lüttje Broder door, un he nöhm synen Vader un Marleenken by der Hand, un wören all dre so recht vergnöögt un güngen in dat Huus by Disch.