Die alte Isergil (Gorki)
Kurze Zusammenfassung
Bessarabien, Küste bei Akkerman. Nach der Weinlese blieb ein junger Mann mit der alten Isergil zurück, während die anderen Arbeiter zum Strand gingen.
Sie erzählte ihm die Legende von Larra, dem stolzen Sohn eines Adlers und einer Menschenfrau. Larra tötete ein Mädchen, das ihn zurückwies. Als Strafe für seinen Hochmut wurde er zur ewigen Einsamkeit verdammt und wanderte als Schatten durch die Steppe.
Danach erzählte Isergil aus ihrem eigenen Leben: von ihren vielen Liebschaften mit Fischern, Huzulen, einem Türken, einem Polen und anderen Männern. Sie hatte ein bewegtes Leben voller Leidenschaft geführt, bis sie alt wurde und sich in der Dobrudscha niederließ.
Zuletzt erzählte sie die Legende von Danko, der sein Volk durch einen dunklen Wald führte. Als die Menschen an ihm zweifelten und ihn töten wollten, riss er sich das Herz aus der Brust.
Und plötzlich öffnete er sich mit den Händen die Brust, riß sein Herz heraus und hielt es hoch über seinen Kopf. Es loderte so hell wie die Sonne.
Detaillierte Zusammenfassung
Die Einteilung in Kapitel ist redaktionell.
Begegnung mit der alten Isergil und die Legende von Larra
Nach der Weinlese in Bessarabien blieb ein junger Erzähler mit der alten Isergil im Schatten der Reben zurück, während die anderen Arbeiter zum Strand gingen. Die Moldawier sangen und lachten, ihre Stimmen klangen durch die warme Nacht. Als der Mond aufging, wies die Alte auf einen Schatten in der Steppe und behauptete, es sei Larra.
Die alte Isergil tadelte den jungen Mann für seine Finsternis:
Ihr Russen kommt als Greise zur Welt. Seid alle so finster wie Dämonen... Dabei bist du jung und stark.
Dann begann sie die Legende von Larra zu erzählen. Vor Jahrtausenden lebte jenseits des Meeres ein kraftvolles Volk. Einst raubte ein Adler eine schöne Frau und machte sie zu seiner Gattin. Nach zwanzig Jahren kehrte sie mit ihrem Sohn zurück. Der Vater war gestorben, nachdem er sich in seinem Alter von einem Berggrat gestürzt hatte.
Der junge Mann war schön wie seine Mutter einst gewesen war, aber seine Augen blickten kalt und stolz wie die des Adlers. Er weigerte sich, die Ältesten zu ehren, und erklärte, seinesgleichen gebe es nirgends. Als er ein Mädchen begehrte, die Tochter eines Ältesten, stieß sie ihn von sich. Daraufhin schlug er sie zu Boden und tötete sie, indem er ihr den Fuß auf die Brust setzte.
Die Menschen wollten ihn bestrafen, aber fanden keine angemessene Strafe. Als sie ihn fragten, warum er die Tat begangen habe, antwortete er:
Ich aber brauchte sie... Benutzt ihr etwa nur, was euch gehört? Ich sehe, daß jeder Mensch nur seine Rede, Arme und Beine hat – aber er besitzt vieles andere.
Ein Weiser erkannte, dass die wahre Strafe in ihm selbst lag - seine Einsamkeit und sein Stolz. Sie ließen ihn frei, und er erhielt den Namen Larra, was 'Ausgestoßener' bedeutet. Jahrzehntelang lebte er allein, raubte und quälte die Menschen, geschützt durch eine unsichtbare Hülle. Schließlich sehnte er sich nach dem Tod, aber er konnte nicht sterben. Die Alte schloss mit den Worten:
So kann Gott mit einem Menschen verfahren, der allzu stolz ist... Er lebt Jahrtausende, die Sonne hat seinen Körper, sein Blut und die Knochen ausgetrocknet.
Isergils Jugend - erste Lieben und Abenteuer
Nach der Legende von Larra begann Isergil von ihrem eigenen Leben zu erzählen. Sie philosophierte über die Gesundheit und das Leben:
Gesundheit ist so etwas wie Gold... Wenn du Geld hättest, würdest du es nicht ausgeben? Wer das Leben liebt, singt.
Mit fünfzehn Jahren lebte sie mit ihrer Mutter am Byrlad-Fluss bei Faltschi. Dort erschien eines Tages ein Fischer vom Pruth in seinem Boot.
Er war groß und gertenschlank, trug ein weißes Hemd und sang. Isergil gab ihm Wein und Schweinefleisch, und vier Tage später sich selbst. Nachts fuhren sie mit dem Boot spazieren, aber bald langweilte er sie - er sang und küßte nur, nichts weiter. Zu dieser Zeit streifte ein Trupp Huzulen in der Gegend umher, und Isergil bat eine Freundin, sie mit einem bekannt zu machen.
Der Huzule war rothaarig - Schnurrbart, Locken, alles rot wie Feuer. Er war manchmal zärtlich, dann wieder wild wie ein Tier. Einmal schlug er Isergil ins Gesicht, woraufhin sie ihm wie eine Katze auf die Brust sprang und sich in seine Wange verbiß. Seitdem hatte er ein Grübchen, das sie gern küßte. Der Fischer schloß sich den Huzulen an, und beide wurden später in der Dobrudscha gehängt. Der Fischer weinte bei der Hinrichtung, der Huzule rauchte gelassen seine Pfeife und rief Isergil zum Abschied zu.
Später liebte Isergil einen Türken und war eine Woche in seinem Harem in Skutari.
Der Türke war reich und würdevoll, verkaufte Sandelholz und Palmbäume. Er hatte acht Frauen, aber Isergil langweilte sich - den ganzen Tag aßen, schliefen und schwatzten die Frauen dummes Zeug. Mit seinem sechzehnjährigen Sohn floh sie nach Bulgarien.
In Lom-Palanka stieß ihr eine Bulgarin das Messer in die Brust wegen ihres Bräutigams. Isergil lag lange schwerverletzt in einem Frauenkloster, wo sie ein polnisches Mädchen pflegte. Der kleine Türke siechte vor Heimweh dahin wie ein schwaches Bäumchen ohne Sonne. Er wurde durchsichtig und bläulich wie eine Eisscholle, bat ständig um Küsse und darum, daß sie sich zu ihm lege und ihn wärme. Eines Morgens erwachte sie, und er war tot. Isergil weinte und fragte sich, ob sie ihn getötet habe - sie war doppelt so alt und voller Lebenskraft.
Aus dem Kloster bei Arzer-Palanka kam der Bruder der polnischen Pflegerin, ein Mönch.
Mit ihm ging sie nach Polen. Er war lächerlich und gemein, wand sich wie ein Wurm um sie herum, wenn er sie brauchte, aber peitschte sie mit Worten wie mit einer Knute, wenn nicht. Einmal am Flußufer sagte er etwas Geringschätziges zu ihr. Isergil packte ihn wie ein kleines Kind, hob ihn hoch und schleuderte ihn in den Fluß. Wie er schrie und im Wasser strampelte! Sie ging weg und traf ihn nie wieder.
Isergils spätere Jahre - Reisen und letzte Liebe
In Polen hatte Isergil es schwer. Die Menschen dort waren kaltherzig und falsch, sprachen eine zischelnde Sprache wie Schlangen. Ein Jude kaufte sie, um sie zu verkaufen. Reiche Pans besuchten sie und speisten bei ihr, das kam sie teuer zu stehen. Einer schüttete einen ganzen Sack Goldmünzen über sie aus, aber sie jagte ihn fort - er hatte ein dickes, feuchtes Gesicht und einen Bauch wie ein Kissen.
Damals liebte sie einen vornehmen Pan mit zerhauenem Gesicht. Die Türken hatten es mit Säbeln zugerichtet, als er für die Griechen gegen sie gekämpft hatte. Ein Auge war ausgelaufen, an der linken Hand fehlten zwei Finger. Isergil bewunderte ihn:
Weißt du, im Leben ist stets Platz für Heldentaten. Und diejenigen, die sie nicht finden, sind einfach Faulpelze oder Feiglinge.
Ihr letztes Spiel spielte Isergil mit einem Schlachtschützen.
Arkadek war schön wie ein Teufel, stolz und von Frauen verwöhnt. Isergil war schon vierzig und mußte lange um ihn kämpfen. Auf den Knien flehte er sie schließlich an, aber kaum hatte er sie besessen, warf er sie wieder weg. Als er gegen die Russen in den Krieg zog, wurde sie krank vor Sehnsucht und beschloß, ihm nachzufahren. Sie erfuhr, daß er in Gefangenschaft war, verkleidete sich als lahme Bettlerin und schlich sich nachts zu dem Dorf, wo die Polen gefangen gehalten wurden.
Ein russischer Posten versperrte ihr den Weg. Sie redete ihm zu, sie zu ihrem 'Sohn' zu lassen, sprach von Mutterliebe und Mitleid. Als er sich weigerte, warf sie ihn zu Boden und ertränkte ihn in einer Schlammptütze. Dann befreite sie Arkadek und drei andere Polen. Auf der Flucht kniete Arkadek vor ihr nieder und nannte sie 'seine Königin' - aber nur aus Dankbarkeit. Isergil gab ihm einen Fußtritt. Die Polen verdächtigten sie, sie könnte sie verraten. Am nächsten Tag wurde sie von den Russen festgenommen, aber bald wieder freigelassen.
Die Legende von Danko und die geheimnisvollen Flammen
Isergil erkannte, daß es Zeit war, ein Nest zu bauen. Sie fuhr nach Galizien und dann in die Dobrudscha, wo sie dreißig Jahre lebte. Ihr moldawischer Mann war vor einem Jahr gestorben. Nun lebte sie allein mit den jungen Arbeitern, denen sie Geschichten erzählte. Als blaue Flämmchen in der Steppe aufloderten, erklärte sie, das seien die Funken von Dankos brennendem Herzen, und begann die letzte Legende.
In alter Zeit lebte ein Volk in der Steppe, umgeben von undurchdringlichen Wäldern. Feindliche Stämme trieben sie tief in die Wälder, wo Sümpfe und Finsternis herrschten. Der giftige Brodel der Sümpfe raffte die Menschen dahin. Sie saßen zusammen und sannen nach, aber schwermütiges Nachdenken zehrte an Körper und Seele. Angst keimte auf, und schon wollten sie zum Feind gehen und ihre Freiheit opfern. Da erschien Danko.
Danko war jung und schön, und aus seinen Augen leuchtete große Seelenstärke. Er sagte zu seinem Volk:
Nachdenken allein räumt den Stein nicht aus dem Weg. Wer nichts tut, der verändert nichts. Erhebt euch, wir dringen in den Wald!
Das Volk folgte ihm. Der Weg war schwer, der Wald wurde immer dichter, die Kräfte schwanden. Bei einem Gewitter murrten die Menschen gegen Danko und warfen ihm vor, er habe sie vergebens geführt. Sie wollten ihn töten. Danko blickte sie an und sah, daß sie wie Tiere waren.
Er liebte die Menschen und glaubte, daß sie ohne ihn vielleicht umkommen würden. Und sein Herz loderte in inbrünstigem Verlangen, sie zu retten.
Plötzlich riß er sein Herz aus der Brust und hielt es hoch über seinen Kopf. Es loderte heller als die Sonne und erleuchtete den Weg. Das Volk folgte ihm, und sie gelangten in die freie Steppe. Danko lachte stolz, fiel zu Boden und starb. Die Menschen bemerkten seinen Tod nicht.
Einer nur, ein vorsichtiger Mann, bemerkte es und trat in unbestimmter Furcht mit dem Fuß auf das stolze Herz. Da zersprühte es in unzähligen Funken.