Die unsichtbare Sammlung (Zweig)
Kurze Zusammenfassung
Deutschland, Zeit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Berliner Kunstantiquar fuhr in eine sächsische Kleinstadt, um einen alten Kunden zu besuchen, der seit 1914 nichts mehr bestellt hatte.
Er traf einen über achtzigjährigen blinden Mann an, der seit sechzig Jahren leidenschaftlich Kupferstiche sammelte.
Die Tochter des Alten bat den Händler heimlich, dem Vater nicht zu verraten, dass seine Familie die wertvollen Stiche aus Not verkauft und durch leere Blätter ersetzt hatte.
Die unsichtbare Sammlung, die längst in alle Winde zerstreut sein mußte, sie war für diesen Blinden, für diesen rührend betrogenen Menschen noch unverstellt da, und die Leidenschaft seiner Vision so überwältigend
, dass der Händler mitspielte und die leeren Blätter bewunderte. Der glückliche Alte versprach ihm sogar die Versteigerung seiner Sammlung.
Ausführliche Inhaltsangabe
Die Gliederung in Kapitel ist redaktionell.
Der Kunsthändler und die Inflation
Zwei Stationen hinter Dresden stieg ein älterer Herr in das Zugabteil und grüßte höflich. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung erkannte der Mitreisende in ihm einen der angesehensten Kunstantiquare Berlins, bei dem er in Friedenszeiten oft alte Bücher und Autographen gekauft hatte.
Der Antiquar erzählte von den dramatischen Veränderungen im Kunsthandel seit der Inflation. Die neuen Reichen entdeckten plötzlich ihre Leidenschaft für gotische Madonnen, Inkunabeln und alte Stiche. Sie kauften alles auf, was sie bekommen konnten, und betrachteten kostbare Kunstwerke nur noch als Geldanlage in Dollar oder Franken. Der Händler war völlig ausverkauft und schämte sich für den erbärmlichen Schund, der noch in seinem traditionsreichen Geschäft verblieben war.
In seiner Verzweiflung durchsuchte er alte Geschäftsbücher nach ehemaligen Kunden, denen er vielleicht Dubletten abkaufen könnte. Dabei stieß er auf die Korrespondenz eines besonderen Kunden, der seit 1914 nichts mehr bestellt hatte. Die Briefe reichten fast sechzig Jahre zurück und zeugten von einem skurrilen, altväterischen Menschen mit pedantischer Sparsamkeit, aber außergewöhnlichem Kunstverstand.
Die Entdeckung des alten Kunden
Der Kunde war ein Forst- und Ökonomierat a.D., Veteran aus dem siebziger Krieg, der über Jahrzehnte hinweg eine beeindruckende Kupferstichsammlung zusammengetragen hatte. Seine Bestellungen zeugten von feinster Kennerschaft und vorzüglichem Geschmack. Da keine Versteigerung einer solchen Sammlung bekannt geworden war, musste der alte Mann noch leben oder die Sammlung in den Händen seiner Erben sein.
Neugierig geworden fuhr der Antiquar am nächsten Tag in die kleine sächsische Provinzstadt. Es schien ihm fast unmöglich, dass in diesem banalen Ort jemand die herrlichsten Blätter Rembrandts neben Stichen Dürers und Mantegnas besitzen könnte. Im Postamt erfuhr er jedoch, dass der alte Herr tatsächlich noch lebte.
Die Wohnung befand sich im zweiten Stock eines sparsamen Provinzhauses aus den sechziger Jahren. Eine alte, weißhaarige Frau mit schwarzem Häubchen öffnete die Tür. Als sie die Visitenkarte sah, ging sie ins Zimmer, und bald darauf ertönte eine laute, polternde Männerstimme, die den Berliner Antiquar herzlich willkommen hieß.
Im Zimmer stand hochaufgerichtet ein alter, aber noch markiger Mann mit buschigem Schnurrbart in verschnürtem, halb militärischem Hausrock. Er hielt dem Besucher herzlich beide Hände entgegen, kam aber keinen Schritt entgegen. Der Antiquar erkannte sofort: Dieser Mann war blind.
Der blinde Sammler und das Familiengeheimnis
Der blinde Mann begrüßte den Besucher stürmisch, warnte aber scherzhaft vor den Händlern und klagte über die schlechten Geschäfte in Deutschland. Als der Antiquar erklärte, er sei nur gekommen, um einem der größten Sammler Deutschlands seine Aufwartung zu machen, verwandelte sich das Gesicht des alten Mannes vor Stolz und Freude. Er wollte sofort seine Sammlung zeigen.
Doch seine Frau bat eindringlich, die Besichtigung zu verschieben, bis ihre Tochter Annemarie anwesend sei, die alles besser verstehe. Widerwillig stimmte der alte Mann zu, und der Antiquar verabredete sich für drei Uhr nachmittags.
Eine Stunde später holte ein ältliches Mädchen den Antiquar im Hotel ab. Mit großer Verlegenheit und unter Erröten bat sie um ein vertrauliches Gespräch.
Wir möchten Sie nämlich informieren, ehe Sie zu Vater kommen ... die Sammlung ist nicht mehr ganz vollständig ... es fehlen eine Reihe Stücke daraus ... leider sogar ziemlich viele
Annemarie erklärte die tragische Situation: Der Vater war nach Kriegsausbruch vollständig erblindet, nachdem er sich über den langsamen Vormarsch der deutschen Armee aufgeregt hatte. Die Familie lebte in bitterer Armut, da die Pension nicht mehr ausreichte. Sie hatten heimlich die wertvollsten Stücke der Sammlung verkauft, um zu überleben.
Vater hätte es nie erlaubt, er weiß ja nicht, wie schlecht es geht ... er weiß auch nicht, daß wir den Krieg verloren haben und daß Elsaß und Lothringen abgetreten sind, wir lesen ihm aus der Zeitung alle diese Dinge nicht mehr vor
In die alten Passepartouts hatten sie Nachdrucke oder ähnliche Blätter eingelegt, damit der Vater beim Betasten nichts merkte. Er verbrachte jeden Nachmittag drei Stunden mit seiner geliebten Sammlung und war glücklich dabei.
Ich glaube, das Herz würde ihm brechen, wenn er ahnte, daß alles das unter seinen Händen längst weggewandert ist ... helfen Sie uns, ihn glauben zu machen, daß alle diese Blätter ... noch vorhanden sind
Erschüttert von dieser Geschichte versprach der Antiquar zu helfen und das Geheimnis zu wahren.
Die unsichtbare Sammlung
Zurück in der Wohnung wartete der blinde Sammler ungeduldig mit seinen siebenundzwanzig Mappen. Er begann sofort mit der Präsentation seiner Dürer-Sammlung und entnahm das erste Blatt.
Und nun entnahm er mit jener zärtlichen Vorsicht, wie man sonst etwas Zerbrechliches berührt, mit ganz behutsam anfassenden schonenden Fingerspitzen der Mappe ein Passepartout, in dem ein leeres vergilbtes Papierblatt eingerahmt lag
Der alte Mann hielt das leere Blatt begeistert vor sich hin und beschrieb es in allen Details als "Das große Pferd" von Dürer. Er rühmte die Schärfe des Abzugs und zeigte mit dem Fingernagel haargenau auf die Sammlerzeichen auf der Rückseite des leeren Blattes.
Mir lief es kalt über den Rücken, als der Ahnungslose ein vollkommen leeres Blatt so begeistert rühmte, und es war gespenstisch mitanzusehen, wie er mit dem Fingernagel bis zum Millimeter genau auf alle die nur in seiner Phantasie noch vorhandenen unsichtbaren Sammlerzeichen hindeutete
Zwei Stunden lang dauerte diese gespenstische Vorführung. Der Blinde beschrieb hunderte von leeren Blättern oder schäbigen Reproduktionen mit solcher Präzision und Leidenschaft, als wären sie noch da. Seine unsichtbare Sammlung war für ihn vollkommen real. Der Antiquar spielte mit und lobte jedes imaginäre Blatt.
Der alte Mann war überglücklich, endlich einem Kenner seine Schätze zeigen zu können. Er erzählte stolz von seinen Entbehrungen:
Es ist ja wahr, in sechzig Jahren kein Bier, kein Wein, kein Tabak, keine Reise, kein Theater, kein Buch, nur immer gespart und gespart für diese Blätter. Aber ihr werdet einmal sehen, wenn ich nicht mehr da bin – dann seid ihr reich
Gerührt von dieser reinen Begeisterung versprach der Antiquar, seinem Haus die Auktion der Sammlung zu übertragen. Die Frauen standen dabei wie die Jüngerinnen am leeren Grab, halb in Tränen, halb in Ekstase über die kindliche Freude des Greises.
Abschied und Reflexionen
Beim Abschied dankte der blinde Sammler dem Antiquar überschwänglich für den schönsten Tag seit Jahren. Die Frauen begleiteten den Besucher dankbar zur Tür. Auf der Straße rief der alte Mann noch einmal aus dem Fenster nach und schwenkte sein Taschentuch.
Unvergeßlich war mir der Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Greises da oben im Fenster ... sanft aufgehoben aus unserer wirklichen widerlichen Welt von der weißen Wolke eines gütigen Wahns