Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk (Zweig)
Kurze Zusammenfassung
Paris, April 1931. Nach einem Regenschauer setzte sich der ErzĂ€hler an einem herrlichen FrĂŒhlingsmorgen in ein CafĂ© am Boulevard und beobachtete neugierig das StraĂenleben.
Er bemerkte einen dĂŒnnen Mann in einem kanariengelben MĂ€ntelchen, der immer wieder vor einer Schaufensterauslage mit lebenden Ăffchen auftauchte. Nach lĂ€ngerem Beobachten erkannte der ErzĂ€hler, dass es sich um einen Taschendieb handelte.
Der Taschendieb nutzte das GedrÀnge vor dem Affenfenster, um einer armen Frau die Geldbörse aus ihrer Einkaufstasche zu stehlen. Der ErzÀhler folgte ihm heimlich durch Paris, beobachtete ihn beim Mittagessen und sah sein Elend. SpÀter ging der Dieb ins HÎtel Drouot, ein Auktionshaus, wo bei einer Versteigerung chinesischen Porzellans dichtes GedrÀnge herrschte. Als der Dieb versuchte, dem ErzÀhler die Brieftasche zu stehlen, packte dieser reflexartig die Hand des Diebes unter seinem Rock.
Diese Sekunde kann ich nicht beschreiben. Ich war ganz starr vor Schreck, plötzlich ein lebendiges StĂŒck kalten Fleisches eines fremden Menschen gewaltsam zu halten.
Beide erstarrten vor Schreck. Der Dieb blickte den ErzĂ€hler flehend an, voller Todesangst. Der ErzĂ€hler schĂ€mte sich dieser Macht ĂŒber einen anderen Menschen und lieĂ die Hand los. Der Dieb verstand, dass er nicht angezeigt werden wĂŒrde, und flĂŒchtete aus dem Saal. Der ErzĂ€hler wollte ihm helfen, doch der Dieb missverstand dies und verschwand auf der StraĂe.
Detaillierte Zusammenfassung
Die Einteilung in Kapitel ist redaktionell.
Ankunft in Paris und die Entdeckung eines merkwĂŒrdigen Mannes
An einem merkwĂŒrdigen Aprilmorgen 1931 kam ein Reisender in Paris an. Nach einem heftigen Wolkenbruch wĂ€hrend der Zugfahrt war die Luft frisch und rein geworden.
Wie ein Seidenbonbon schmeckte sie sĂŒĂ, kĂŒhl, feucht und glĂ€nzend, gefilterter FrĂŒhling, unverfĂ€lschtes Ozon, und mitten auf dem Boulevard de Strasbourg atmete man ĂŒberrascht einen Duft von aufgebrochenen Wiesen und Meer.
Der ErzĂ€hler hatte keine Verabredungen und lieĂ sich treiben, bis er schlieĂlich auf der Terrasse eines CafĂ©s an der Ecke Boulevard Haussmann und Rue Drouot landete.
An diesem Tag fĂŒhlte er sich besonders aufmerksam und neugierig - einen seiner sogenannten Neugiertage.
An solchen Neugiertagen bin ich gleichsam doppelt und sogar vielfach ich selbst; ich habe dann nicht genug an meinem eigenen umgrenzten Leben, mich drÀngt, mich spannt etwas von innen.
WĂ€hrend er die vorbeiströmenden Menschen beobachtete, fiel ihm ein merkwĂŒrdiger Mann auf, der immer wieder an derselben Stelle auftauchte. Es war ein dĂŒrrer, ausgehungerter Körper in einem kanariengelben SommermĂ€ntelchen, das ihm viel zu weit war. Der Mann hatte ein dĂŒnnes Spitzmausgesicht mit blassen Lippen und einem blonden BĂ€rtchen. Er schien kurzsichtig zu sein und wurde oft von eiligeren Passanten angerannt.
Der ErzĂ€hler Ă€rgerte sich ĂŒber seine eigene UnfĂ€higkeit zu erraten, was dieser Mensch hier wollte. ZunĂ€chst dachte er, es sei ein Detektiv, erkannte aber bald an der zu echten Armseligkeit der Kleidung, dass dies nicht stimmen konnte.
Die Erkenntnis: Ein Taschendieb bei der Arbeit
Plötzlich erkannte der Beobachter die Wahrheit: Es war ein Taschendieb. Der Mann suchte sich gezielt die dicksten Menschenansammlungen vor einem Schaufenster aus, in dem drei lebendige Ăffchen ihre KunststĂŒcke vorfĂŒhrten und die Passanten ablenkten. Diese Ablenkung nutzte der Dieb fĂŒr seine Arbeit.
Der ErzÀhler war begeistert von dieser Entdeckung, denn noch nie hatte er einen Taschendieb bei der Arbeit gesehen. Er verlieà seinen Platz am Kaffeehaustisch und suchte sich einen besseren Beobachtungsposten hinter einem Plakatkiosk. Von dort aus konnte er ungestört zusehen, wie der arme Teufel seinem schweren und gefÀhrlichen GeschÀft nachging.
Eine ganze Stunde lang, von elf bis zwölf Uhr vormittags, beobachtete er fasziniert diesen Mann. Dabei lernte er, dass Taschendiebstahl bei hellem Tageslicht eine ungemein schwere und kaum erlernbare Kunst war, die weit mehr als nur Fingerfertigkeit erforderte.
AllmÀhlich begann sich der Beobachter mit dem Dieb zu identifizieren und wurde emotional zu seinem Komplizen.
Aber nur anfangs gelang es mir, rein sachlich kĂŒhl diesen Mann bei seinem Handwerk zu beobachten; aber jedes leidenschaftliche Zuschauen erregt unwiderstehlich GefĂŒhl, GefĂŒhl wiederum verbindet.
Die Kunst des Taschendiebstahls
Durch seine intensive Beobachtung erkannte der ErzĂ€hler, dass Taschendiebstahl eine auĂerordentlich anspruchsvolle TĂ€tigkeit war. Der Dieb musste nicht nur geschickte Finger haben, sondern auch psychologisches Geschick, Selbstbeherrschung und enormen Mut besitzen.
Denn ein Taschendieb, dies begriff ich jetzt schon nach sechzig Minuten Lehrzeit, muà die entscheidende Raschheit eines Chirurgen besitzen, der eine Herznaht vornimmt; aber dort liegt der Patient wenigstens schön chloroformiert.
Der Dieb musste seine Opfer sorgfĂ€ltig auswĂ€hlen - nur die Unaufmerksamen und Nichtmisstrauischen kamen in Frage, und von hunderten Menschen auf der StraĂe waren kaum einer oder zwei geeignet. Gleichzeitig musste er darauf achten, selbst nicht beobachtet zu werden, wĂ€hrend er seine Arbeit verrichtete.
Der ErzÀhler erkannte, dass dies eine Mutleistung höchsten Ranges war.
Taschendiebstahl am hellichten Tage auf einem Boulevard, ich weiĂ es jetzt, ist eine Mutleistung höchsten Ranges, und ich empfinde es seitdem als gewisse Ungerechtigkeit, wenn die Zeitungen diese Art Diebe gleichsam als die Belanglosen unter den ĂbeltĂ€tern abtun.
Als die Mittagszeit kam und die StraĂen sich mit Arbeitern, NĂ€hmĂ€dchen und Angestellten fĂŒllten, wurde das GedrĂ€nge vor der Affenauslage besonders dicht. Der kleine Mann im gelben MĂ€ntelchen schwamm und tauchte geschickt durch das Geschiebe. Der Beobachter drĂ€ngte sich nĂ€her heran, um den entscheidenden Moment nicht zu verpassen.
Plötzlich sah er, wie sich der Dieb einer dicken Frau nĂ€herte, die mit ihrer kleinen Tochter begeistert die Ăffchen betrachtete. Die Frau trug eine offene Einkaufstasche, aus der Brotstangen herausragten.
Der ErzĂ€hler empfand plötzlich Empörung - diese gutmĂŒtige, arme Frau sollte bestohlen werden! Er drĂ€ngte sich vor, um die Einkaufstasche zu schĂŒtzen, aber in diesem Moment wandte sich der Dieb ab, streifte ihn mit einem "Pardon, Monsieur" und verschwand aus dem GedrĂ€nge. Der Beobachter war sicher: Er hatte zugegriffen.
Der erste Coup und die Verfolgung
Der ErzĂ€hler folgte dem Dieb, der nun mit völlig verĂ€nderter Gangart - schnell wie ein Wiesel - durch die Seitengassen flitzte. Dies war eindeutig die Fluchtgangart nach vollbrachter Tat. Nach einigen StraĂen verlangsamte der Mann sein Tempo und ging wieder ganz normal, als wĂ€re nichts geschehen.
SchlieĂlich steuerte er auf ein kleines öffentliches HĂ€uschen zu, um sich dort unbeobachtet der BeweisstĂŒcke zu entledigen und seine Beute zu zĂ€hlen. Als er wieder herauskam, erkannte der Beobachter sofort an seiner enttĂ€uschten Haltung: Die Beute war mager gewesen. Der arme Teufel hatte den ganzen Vormittag umsonst gearbeitet.
Der Dieb blieb sehnsĂŒchtig vor einem SchuhgeschĂ€ft stehen und betrachtete die billigsten Schuhe in der Auslage. Seine zerlöcherten Schuhe brauchten dringend Ersatz, aber der hungrige Blick verriet: FĂŒr neue Schuhe hatte der Griff nicht gereicht.
AnschlieĂend ging er in ein billiges Speisehaus. Der ErzĂ€hler folgte ihm und setzte sich einen Tisch dahinter. Der arme Mann bestellte eine Flasche Milch - ein Dieb, der Milch trinkt! Diese Kleinigkeit erhellte plötzlich seine ganze Situation.
Ein Dieb, der Milch trinkt! Immer sind es ja einzelne Kleinigkeiten, die wie ein aufflammendes ZĂŒndholz die ganze Tiefe eines Seelenraumes erhellen, und in diesem einen Augenblick hörte er sofort fĂŒr mich auf, Dieb zu sein.
Der Beobachter empfand nun tiefes Mitleid mit diesem unglĂŒcklichen Menschen. Er sah in ihm nur noch einen der unzĂ€hligen Armen und Gejagten dieser Welt.
In allen Formen der gemeinsamen Irdischkeit, in der Nacktheit, im Frost, im Schlaf, in der ErmĂŒdung, in jeder Not des leidenden Leibes fĂ€llt zwischen Menschen das Trennende ab, die kĂŒnstlichen Kategorien verlöschen.
Der ErzĂ€hler wollte dem Mann helfen, fand aber keinen Weg, ihn anzusprechen, ohne seinen Stolz zu verletzen. Als der Dieb das Restaurant verlieĂ, folgte er ihm erneut, getrieben von einer dumpfen Angst um diesen Menschen.
Im HĂŽtel Drouot - das ideale Revier
Zu seiner Ăberraschung fĂŒhrte der Weg des Diebes zum HĂŽtel Drouot, dem berĂŒhmten Versteigerungsinstitut von Paris. Der ErzĂ€hler erkannte sofort, dass dies der ideale Ort fĂŒr einen Taschendieb war: dichtes GedrĂ€nge, Ablenkung durch die Gier des Schauens und Bietens, und vor allem Menschen mit gefĂŒllten Brieftaschen, da hier alles bar bezahlt werden musste.
Trotz der Warnschilder vor Taschendieben stieg der erfahrene Dieb ruhig die Stufen hinauf. Er erkundete verschiedene SĂ€le und entschied sich schlieĂlich fĂŒr Saal sieben, wo eine kostbare Sammlung chinesischer und japanischer Porzellan versteigert wurde. Hier drĂ€ngten sich die Menschen besonders dicht, angelockt von den sensationell teuren Objekten.
Der ErzĂ€hler kĂ€mpfte sich durch die Menschenmenge, verlor aber seinen "Freund" aus den Augen. Das kanariengelbe MĂ€ntelchen war irgendwo in der Masse verschwunden. Eine mystische Angst erfasste den Beobachter - er war sicher, dass dem armen Teufel heute etwas Entsetzliches zustoĂen wĂŒrde.
Die Versteigerung und der entscheidende Moment
Das HauptstĂŒck der Auktion kam zur Versteigerung: eine riesige Vase, die der Kaiser von China vor dreihundert Jahren dem König von Frankreich geschenkt hatte. Der Auktionator verkĂŒndete feierlich den Ausrufpreis von einhundertdreiĂigtausend Francs.
Ein spannender Bieterkampf entwickelte sich zwischen dem Vertreter eines amerikanischen Auktionshauses und dem PrivatsekretĂ€r eines groĂen Sammlers. Die Spannung im Saal war mit HĂ€nden zu greifen, als der Preis auf zweihundertsechzigtausend Francs stieg.
Als der Hammer zum dritten Mal drohte zu fallen, herrschte absolute Stille. Dreihundert Herzen standen still. Der Hammer fiel mit trockenem Schlag, und die Menschenmauer schwankte und zerbrach in einer erregten Welle der Entspannung.
In diesem Moment der Auflockerung spĂŒrte der ErzĂ€hler plötzlich einen Ellbogen in seiner Brust und hörte ein "Pardon, Monsieur". Es war der Dieb, der durch die Welle zu ihm hergeschwemmt worden war! Jetzt konnte er ihn endlich genau ĂŒberwachen. Der Mann hatte seine HĂ€nde unter den Ărmeln versteckt, bereit zum Zugriff.
Mit Schrecken erkannte der ErzĂ€hler: Der Dieb hatte ihn als Opfer ausgewĂ€hlt! Er spĂŒrte, wie sich der Ărmel mit der verdeckten Hand immer nĂ€her an seine Brieftasche heranschob. Hypnotisiert von Erregung und Erwartung, konnte er sich nicht bewegen. Bei der nĂ€chsten Auflockerung der Menge fĂŒhlte er den gleitenden Griff wie das Laufen einer Schlange.
Plötzlich fuhr seine eigene Hand automatisch hoch und packte die fremde Hand unter seinem Rock. Es war eine reine Reflexbewegung gewesen, die ihn selbst ĂŒberraschte. Beide MĂ€nner erstarrten vor Schreck - der eine hielt die kalte, zitternde Diebshand gefangen, der andere wagte nicht, sie wegzureiĂen.
Die Begegnung und der Abschied
WĂ€hrend oben die Auktion weiterging, spielte sich zwischen den beiden MĂ€nnern eine namenlose Schlacht ab. SchlieĂlich lieĂ der ErzĂ€hler die fremde Hand los, die sofort im Ărmel des gelben MĂ€ntelchens verschwand. Beide standen noch immer nebeneinander, Komplizen der geheimnisvollen Tat, beide gelĂ€hmt von dem gleichen Erlebnis.
Als der ErzĂ€hler zu dem Dieb hinĂŒbersah, blickte dieser gleichzeitig zu ihm herĂŒber. In den kleinen wĂ€sserigen Augen las er die stumme Bitte um Gnade.
»Gnade, Gnade! Nicht mich anzeigen!« schienen die kleinen wĂ€sserigen Augen zu betteln, die ganze Angst seiner zerpreĂten Seele, die Urangst aller Kreatur strömte aus diesen runden Pupillen heraus.
Der Dieb verstand, dass er nicht angezeigt werden wĂŒrde, und löste sich von seinem unfreiwilligen Komplizen. Mit einem TaucherstoĂ verschwand das kanariengelbe MĂ€ntelchen in der Menge. Der ErzĂ€hler wollte ihm noch helfen, ihm Dank fĂŒr diese Stunden der Spannung erweisen, aber als der UnglĂŒcksvogel ihn von weitem erspĂ€hte, flatterte er bereits die Treppe hinab in die Unerreichbarkeit der menschendurchfluteten StraĂe. Unvermutet, wie sie begonnen hatte, war die Lehrstunde zu Ende.
Der ErzĂ€hler blieb zurĂŒck mit der Erkenntnis, dass er einen Einblick in eine verborgene Welt erhalten hatte - die Welt der Verzweifelten und Gejagten, die ihre Freiheit aufs Spiel setzen, um zu ĂŒberleben. Die Begegnung mit dem Taschendieb hatte ihm gezeigt, dass hinter jedem Verbrechen ein Mensch steht, der um sein Dasein kĂ€mpft. Diese Erfahrung wĂŒrde ihn fĂŒr immer prĂ€gen und sein VerstĂ€ndnis fĂŒr die AbgrĂŒnde und Nöte des menschlichen Lebens vertiefen.
Paris hatte ihm an diesem Apriltag eine seiner kostbarsten Lektionen erteilt - eine Lektion ĂŒber Menschlichkeit, Verzweiflung und die dĂŒnne Grenze zwischen Recht und Unrecht in einer Welt voller Not und Ungerechtigkeit.