Heimsuchung (Erpenbeck)
Kurze Zusammenfassung
Brandenburg, von der Eiszeit bis zur Gegenwart. Vor vierundzwanzigtausend Jahren formte das Eis einen See, der später Märkisches Meer genannt wurde. Am Ufer dieses Sees entstand ein Grundstück, dessen Geschichte über Generationen von einem geheimnisvollen Gärtner begleitet wurde.
Im Dorf lebte der Schulze mit seinen vier Töchtern. Die jüngste, Klara, erbte den Wald am Schäferberg und verliebte sich in einen Fischer. Der Vater ließ sie entmündigen und verkaufte ihr Land an verschiedene Käufer, darunter einen Berliner Architekten. Klara ging ins Wasser und ertrank.
Der Architekt baute in den 1930er Jahren ein Sommerhaus auf dem Grundstück. Ein jüdischer Tuchfabrikant namens Ludwig kaufte das Nachbargrundstück, emigrierte später nach Südafrika. Seine Eltern wurden von den Nazis ermordet, seine Nichte Doris starb mit zwölf Jahren im Vernichtungslager Chełmno.
1945 kamen die Russen. Die Frau des Architekten versteckte sich in einem begehbaren Wandschrank. Ein junger Rotarmist fand sie dort. Diese Nacht veränderte sie für immer. 1951 floh der Architekt in den Westen und vergrub zuvor sein Silber und Porzellan im Garten.
Nach dem Krieg pachtete eine kommunistische Schriftstellerin das Grundstück. Der Gärtner blieb und pflegte weiterhin den Garten. Nach der Wende verlor die Tochter der Schriftstellerin das Haus durch Restitution. Sie kehrte heimlich zurück und lebte versteckt im Wandschrank, bis das Haus verkauft wurde.
Der Gärtner verschwand spurlos. Die neuen Eigentümer ließen das Haus abreißen.
Als sie mit dem Abbruch des Hauses fertig sind ... sieht das Grundstück auf einmal viel kleiner aus. Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft ... wieder sich selbst.
Ausführliche Zusammenfassung
Prolog
Vor etwa vierundzwanzigtausend Jahren schob sich das Eis bis zum Felsmassiv vor, das später nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen war. Der ungeheure Druck des Eises zermalmte die erfrorenen Bäume und sprengte Teile des Felsens. Über das Felsmassiv hinweg drang das Eis nicht weiter vor.
Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sich vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor. ... Über das Felsmassiv hinweg drang das Eis nicht.
Als das Eis vor etwa achtzehntausend Jahren zu schmelzen begann, ließ es Inseln von Toteis in den Rinnen zurück. Dieses Eis taute erst viel später und wurde zu Wasser, das sich über dem blauen Ton sammelte und einen klaren See bildete. Der See würde eines Tages von Menschen einen Namen bekommen: Märkisches Meer.
Der Gärtner
Woher er kam, wusste im Dorf niemand. Vielleicht war er immer schon da. Er half den Bauern bei der Veredelung ihrer Obstbäume, beim Schneiden im Sommer und bei der Trockenlegung der Parzellen am Seeufer. Ihm selbst gehörte kein Grundstück, er wohnte allein in einer verlassenen Jagdhütte am Waldrand. Jeder im Dorf kannte ihn, dennoch wurde er nur Der Gärtner genannt, als hätte er sonst keinen Namen.
Der Großbauer und seine vier Töchter
Der Schulze, auch Wurrach genannt, hatte vier Töchter: Grete, Hedwig, Emma und Klara. Sein Vater war Schulze gewesen, und dessen Vater, und immer so weiter zurück bis 1650. Der König selbst hatte den Vater des Vaters des Vaters des Vaters zum Schulzen bestellt. Wenn der Schulze sonntags mit seinen Töchtern durchs Dorf fuhr, zog er den Pferden weiße Strümpfe an.
Die Mutter der vier Mädchen war bei Klaras Geburt gestorben. Der Schulze hatte keinen Sohn. Grete heiratete nicht, weil ihr Verlobter, der älteste Sohn des Bauern Sandke, kurz vor der Hochzeit nicht zum Erben bestimmt wurde und nach Australien auswanderte. Hedwig ließ sich mit einem Handarbeiter ein, den der Vater vom Hof jagte. Sie verlor ihr Kind in der Räucherkammer, in die der Vater sie zur Strafe eingesperrt hatte.
Emma, die drittälteste Tochter, hätte sicher zum Schulzen getaugt, wenn sie als Mann auf die Welt gekommen wäre. Sie ging dem Vater bei allem zur Hand und entschied über die Kontributionen der Dörfler. Über eine Heirat von Emma wurde niemals ein Wort verloren.
Klara, der jüngsten Tochter, stand als Erbteil der Wald am Schäferberg zu. Als der Fischer an ihrem Ufer anlegte, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Sie half ihm beim Aussteigen und führte ihn auf halber Höhe des Hangs zu einem Platz im Gras. Der Fischer legte ihr seinen Kopf in den Schoß, und sie begann, mit ihrem Rock seinen nassen Schopf trockenzureiben.
Am Anfang fiel den Schwestern nichts weiter auf, als dass Klara sie manchmal am Morgen besonders höflich begrüßte, an anderen Tagen aber den Kopf wegdrehte. Dann begann sie, mit dem Kübel für die Schweine vom Hof zu gehen und sich in Klaras Wald zu setzen. Der Vater verbot ihr, den Hof zu verlassen, woraufhin sie sich auf der Klotthofstelle zu verstecken begann. Überall auf dem Hof mussten die Schwestern und das Gesinde gewärtig sein, auf Klara zu stoßen. In irgendeinem Versteck hörte man sie oft heulen und streiten.
Das erste Drittel von Klaras Wald verkaufte der alte Wurrach an einen Kaffee- und Teeimporteur, das zweite Drittel an einen Tuchfabrikanten, das dritte Drittel an einen Berliner Architekten, der dort für sich und seine Verlobte ein Sommerhaus bauen wollte. Der Schulze unterschrieb als Verkäufer im Namen seiner entmündigten Tochter.
Am Tag nach dem Verkauf entdeckte Emma Klaras Spuren im frischgefallenen Schnee. Bei der öffentlichen Badestelle führten sie geradenwegs ins graue Wasser hinein. Wenig später wurde auch ihr Leichnam gefunden, am Ufer der Ziegelei hatte er sich in den Wurzeln einer alten Kiefer verhakt. Der Pfarrer wollte der Selbstmörderin ein christliches Begräbnis versagen, aber das ließ der Schulze, der inzwischen Ortsbauernführer geworden war, nicht gelten.
Der Gärtner
Als die ersten Ferienhäuser am Ufer des Sees gebaut wurden, half der Gärtner beim Schilfschneiden für die Reetdächer. Der Gärtner sprach wenig und zu den Ereignissen im Dorf äußerte er sich überhaupt nie. Manchen im Dorf war er wegen dieses Schweigens nicht ganz geheuer, andere hielten dagegen, er plaudere lieber mit dem Grünzeug. In seine Hütte ließ er niemanden ein.
Der Architekt
Es war bitter, dass er jetzt alles eingraben musste. Das Meißner Porzellan, seine Zinnkrüge und das Silberbesteck. Seine Frau hatte unmittelbar vor dem Einmarsch der Russen dasselbe Geschirr schon einmal in Kisten verpackt, war aber mit den Kisten auf den See hinausgerudert und hatte alles im Wasser versenkt, auf der Untiefe des Nackligen. Den Russen war nur eingefallen, mit langen Stangen im Rasen zu stochern, während der See in aller Ruhe den Staub von den sicher bewahrten Schätzen wusch.
Er hatte Glück, dass in diesem Jahr der Winter so mild war, dass er mit dem Spaten überhaupt in die Erde hineinkam. Seine Zinnkrüge begrub er zwischen den Wurzeln der großen Eiche, das Meißner unter einem Tannenbusch, und das Silberbesteck im Rosenbeet gleich beim Haus. Er wusste, dass er mit den von der Erde geschwärzten Nagelrändern schon in zwei Stunden in der S-Bahn nach Westberlin sitzen würde.
Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft sich mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut...
Übers Wochenende verhaften wir niemanden, hatte der Beamte gesagt. Fünf Jahre mindestens, hatte er gesagt, für die Tonne Schrauben, die er von seinem eigenen Geld im Westen gekauft hatte, um im Osten zu bauen. Einen Bau für den Staat, der ihn jetzt davonjagte. Jetzt musste er froh sein, das blanke Leben zu retten, die dritte Haut sich abziehen zu lassen.
Der Gärtner
Der Gärtner fällte einige Kiefern, zersägte sie und stapelte das Holz im Schuppen auf. Er rodete die Wurzeln und schüttete eine reichliche Schicht Mutterboden auf den märkischen Sand. Er legte den Weg an zwischen der kleinen und der großen Wiese, achtmal acht Stufen, gebrochener Sandstein. Er säte Gras, pflanzte Rosen, Sträucher, Büsche am Hang, setzte Rotdorn, Walnuss, japanische Kirsche und Blaufichte ein.
Die Frau des Architekten
Sie musste selbst noch einmal lachen, obwohl sie den Witz schon oft erzählt hatte. Als Kind hatte sie sich manchmal festgelacht, so hatte das ihr Vater genannt. Seiltänzerin wollte sie werden oder Dompteurin, aber der Großmogul, der eigentlich Großkonsul war, befürwortete ihre Ausbildung zur Stenotypistin. Jetzt saß sie mit ihrem Mann und ein paar Freunden draußen auf der Terrasse, rings um einen großen Topf, in dem Krebse trieben.
Bevor sie ihren Mann kennenlernte, hätte sie niemals geglaubt, dass eines der größten Abenteuer darin bestehen könnte, geheiratet zu werden. Ihr Mann war zu der Zeit noch mit seiner ersten Frau verheiratet. Ein dreiviertel Jahr hatte es gedauert, bis der Chef ihr den ersten Kuss gab. Als er zu ihr sagte: Hier könnten wir leben, nicht wahr?, war ihr klar, dass er nur bei ihr ankommen würde, wenn sie bereit wäre, ihn auf diesem ganz bestimmten Stück Erde zu erwarten.
Noch heute denkt sie, wenn jemand vom Krieg spricht, zuerst an den Krieg, den ihr eigener Körper ausgerechnet damals gegen sie zu führen begann, als die ersten Bomben auf Deutschland fielen. Trotz der knapper werdenden Lebensmittel wurde ihr Körper plötzlich fett. Die 6. Armee kapitulierte vor Stalingrad, da überkam sie schon am Morgen fliegende Hitze. Ihr war es so schlecht gegangen, dass sie eine der Nichten hatte bitten müssen, zu ihr zu kommen.
Erst nach der Schlacht bei den Seelower Höhen hatte sie die Nichte in den Westen geschickt. Sie selbst hatte sich mit den letzten Vorräten im begehbaren Schrank hinter der doppelten Tür eingerichtet. Und dann war der Russe gekommen. Ihr zu der Zeit schon unfruchtbarer Körper hatte ihn mit aller Gewalt an sich gerissen und für die Dauer einer Geburt ihr Lachen erstickt. In dieser Nacht in dem verborgenen Schrank war sie endlich zum Feind übergelaufen.
Hätte es nicht diese eine Nacht gegeben ... würde sie vielleicht noch immer glauben, daß ihr Mann ihr damals ... ein Stück Ewigkeit gekauft hat, und daß diese Ewigkeit an keiner Stelle ein Loch hat.
Der Gärtner
Nachdem die Russen abgezogen waren, beschnitt der Gärtner die Sträucher und Büsche, damit sie vielleicht ein zweites Mal trieben. Er grub die Erde auf der kleinen und der großen Wiese um und setzte dort im Abstand von 40 Zentimetern Kartoffeln. Er war der Hausherrin dabei behilflich, die auf der Untiefe des Nackligen versenkten Kisten wieder heraufzuholen und ins Haus zurück zu bringen.
Der Rotarmist
Nachts waren noch einmal zwölf Pferde gebracht worden. Insgesamt standen jetzt über zweihundert im Garten. Der junge Rotarmist ging zwischen ihnen hindurch wie durch einen Stall, dessen Dach der mondlose Himmel war. Er hatte den anderen den Befehl gegeben, noch einmal loszuziehen, um die Umgegend nach verstecktem Vieh abzusuchen. Im Haus stank es nach den Ausscheidungen seiner Leute.
Er hatte sich oben in einem kleinen Zimmer mit Balkon eingerichtet. Rings um das Bett war die Wand bis zu halber Höhe mit rosafarbener Seide bezogen. Im Innern eines flachen Schrankes hatte er einen cremefarbenen Morgenmantel gefunden, der nach Pfefferminz und Kampfer roch. Manchmal ging er zu dem Schrank hinüber, öffnete ihn, versenkte sein Gesicht in den glatten Stoff und atmete tief ein.
In dieser Nacht raschelte es hinter der Wand. Er öffnete die Tür und sah, dass in den Zwischenraum zwischen Säulen und Boden kleine Rädchen eingelassen waren. Mit einem kräftigen Ruck zog er am Metallknauf, und der flache Schrank folgte dem Zug. Er blickte in den verborgenen tiefen Schrank und sah Kleider, die dicht an dicht hingen. Ein lebendiger Geruch nach Urin und Kot schlug ihm entgegen. Er drängte sich zwischen den Kleidern nach hinten, bis er auf einen Körper stieß, der stumm Gegenwehr zu leisten begann.
Der Gärtner
Im Frühling legte er auf der Wegseite des Hauses ein Blumenbeet an, mit Mohn, Pfingstrosen und gelben Waldblumen bepflanzt. Für die Begrenzung steckte er Buchsbaumzweige in die Erde, die Wurzeln trieben und anwuchsen. 1936 überschritt der Kartoffelkäfer den Rhein. Der Gärtner sammelte mit großer Geduld die Käfer von den Blättern der Engelstrompete. Am Ende des Sommers war vom ganzen Busch nur noch das Skelett übrig.
Der Tuchfabrikant
Mit dem Adler fuhren sie am Vormittag die Küstenstraße entlang ostwärts. Arthur und Hermine, Ludwigs Eltern, waren zu Besuch. Anna hatte den Schwiegereltern zu Ehren ihr weißes Kostüm angezogen. Auf dem Nachbargrund war viel Betrieb, die Vermesser waren da und der Bauherr, ein Architekt aus Berlin. Ludwig hob seine Nichte Doris auf die Kiefer hinauf. Für das Foto setzte sich Anna auf die Kühlerhaube des Adler. Zwei Wochen später fuhren Arthur und Hermine wieder heim.
Elliot und die kleine Elisabeth spielten im Garten. Das Haus war jetzt, mitten im Sommer, so aufgeheizt, dass die Kerzen am Weihnachtsbaum sich schon wieder verbogen. Die Eukalyptusbäume rauschten lauter als alle anderen Bäume, die Ludwig jemals rauschen gehört hatte. Ludwig liebte dieses Rauschen. Hier hatte er eine Autowerkstatt eröffnet und sich spezialisiert auf Kupplungen und Bremsen.
Zwei Monate nachdem Arthur und Hermine ... den Gaswagen bestiegen haben ... wird ihrer beider und ihres ausgewanderten Sohnes Ludwig ... Vermögen eingezogen ... fällt an das Deutsche Reich, vertreten durch den Reichsfinanzminister.
Der Gärtner
Nach Entwürfen des Hausherrn wurde im Frühling auf dem dazugewonnenen Grund ein Bienenhaus für zwölf Völker errichtet. Der Gärtner, der sich hervorragend auf die Imkerei verstand, stellte sich bald ein behelfsmäßiges Bett im Schleuderraum auf und siedelte mit Erlaubnis des Hausherrn ganz über. Er gewöhnte es sich an, Zigarre zu rauchen, um durch den Rauch die Bienen von sich fernzuhalten.
Das Mädchen
Jetzt wusste niemand mehr, dass sie da war. Rings um sie war alles schwarz, und der Kern dieser schwarzen Kammer war sie. Dass es nicht einmal einen kleinen Spalt gab, durch den Licht einfiel, sollte ihr das Leben retten, aber es machte auch, dass sie sich in nichts mehr von der Dunkelheit unterschied. Sie würde gern irgendeinen Beweis dafür haben, dass sie da war, aber es gab keinen Beweis.
Jetzt weiß niemand mehr, daß sie da ist. Rings um sie ist alles schwarz, und der Kern dieser schwarzen Kammer ist sie. ... Sie würde gern irgendeinen Beweis dafür haben, daß sie da ist, aber es gibt keinen Beweis.
Während das Mädchen in seiner schwarzen Kammer saß und von Zeit zu Zeit versuchte, sich aufzurichten, dabei aber mit dem Kopf gegen die Decke stieß, erschienen in seinem Kopf Erinnerungen an Tage, an denen das ganze Blickfeld mit Farben ausgefüllt war. Wolken, Himmel und Blätter, schwarze Erde zwischen den Zehen, Kienzapfen, schuppige Rinde, Sand, Erde, Wasser und Bretter des Stegs. Der einzige Ort, der seit damals sich ähnlich geblieben sein würde, war das Grundstück von Onkel Ludwig.
Von den hundertzwanzig Menschen im Waggon erstickten während der zweistündigen Fahrt ungefähr dreißig. Zwei Minuten lang wölbte sich über ihr ein leicht bewölkter weißlicher Himmel, zwei Minuten lang atmete sie den Geruch nach Kiefern ein, zwei Minuten lang spürte sie den Sand unter den Schuhen, bevor sie die Schuhe für immer auszog und sich auf das Brett stellte, um sich erschießen zu lassen.
Der Gärtner
Im Winter brachte der Gärtner die schon abgelagerten Scheite mit der Schubkarre zum Haus hinauf und heizte für die Hausherrin und ihre Nichte den Ofen. Als die Russen kamen, stellten sie etwa zweihundert Pferde in den Garten. Die Pferde fraßen die frischen Blätter und Blüten des Forsythienstrauchs, die jungen Triebe der Tannenbüsche und die Knospen von Hasel und Flieder. Die Russen beschlagnahmten den gesamten Honigvorrat.
Die Schriftstellerin
Sie spannte den Bogen Papier aus, auf dem sie gestern zuletzt geschrieben hatte: I-c-h k-e-h-r-e h-e-i-m. Jetzt nahm sie ein Blatt Bütten aus der Schublade und begann den Brief an den General, betreffend den Anspruch auf Seezugang des neuen Nachbarn. Sie nannte den General bei seinem Kindernamen und nannte ihn du. Während sie schrieb, verging ihre Wut und verwandelte sich in Erschöpfung.
Der Arzt aus dem Regierungskrankenhaus, für den sie im letzten Jahr bei der Gemeinde erfolgreich Fürsprache eingelegt hatte, ließ sofort die Obstbäume fällen und riss das Bienenhaus ab. In geisterhafter Geschwindigkeit errichteten unbekannte Arbeiter aus Berlin an Stelle des Bienenhauses ein großes Wohnhaus für ihn. Als sie deswegen in der Gemeinde vorstellig wurde, hieß es, von höherer Stelle sei dies so entschieden worden.
Nein, sie und ihr Mann sind nicht nach Deutschland heimgekehrt, sondern sie wollten dies Land ... heimholen in ihre Gedanken. Wollten sich aus den deutschen Trümmern endlich irgendeinen Boden unter die Füße ziehen...
Unten in der Küche klirrt die Köchin mit dem Geschirr, der Gärtner sitzt auf der Schwelle zu seinem Zimmer und raucht Zigarre, auf der großen Wiese bespritzen sich ihre Enkelin und der Nachbarjunge mit Wasser. Rings um die Tafel sitzen ihr Mann, der Sohn mit seiner Frau und die Enkelin, oft auch Freunde und Kollegen aus Berlin, dann die Köchin und schließlich der Gärtner. Während der Vorsuppe spricht ihr Mann über dies und das.
Der Gärtner
Nachdem der mit Beton ausgegossene Walnussbaum in den letzten drei Jahren keine Nüsse mehr getragen hatte, fällte der Gärtner ihn auf Geheiß des Hausherrn. Bei der Kirschernte stürzte der Gärtner von der Leiter und brach sich ein Bein. Zwei Monate musste er liegen. Schwere Arbeiten konnte der Gärtner nach seinem Sturz nicht mehr ausführen. Er ging seither nur noch langsam über das Grundstück.
Die Unterpächter
Das mußt du allein entscheiden, hatte er gesagt. Und sie hatte Ja gesagt. Und nach diesem Ja war sie weinend in sich zusammengesunken. Seine Frau, die nicht einmal damals geweint hatte, als sie ihm im Besuchsraum des Gefängnisses zum ersten Mal wieder gegenübersaß. Kurz nach seiner Entlassung hatte er sie geheiratet. Heute hatte er nur gesagt: Das mußt du allein entscheiden. Und sie hatte zu zittern begonnen.
Vor einer Woche hatte das Telefon geklingelt. Eine Schulfreundin, die die Frau seit dreißig oder vierzig Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte. Es sollte ein Klassentreffen geben. Überhaupt, was ist denn aus deiner Schwester geworden. Aus welcher Schwester. Und lebt dein Stiefvater noch. Was für ein Stiefvater denn. Ach so, du weißt es immer noch nicht, sagt dann diese Freundin, dein Vater war doch gar nicht. Die Frau erfuhr am Telefon, dass auch der Vater nicht echt war.
Der Gärtner
Im Dorf wurde erzählt, dass der Gärtner sich seit dem Abriss des Bienenhauses weigere, seine Fußnägel zu kürzen. Um die Zehen herum bis zur Unterseite der Füße seien sie inzwischen gewachsen. Im Dorf wurde erzählt, dass der Gärtner die kleine Tochter der Hausherren dazu angestiftet habe, Grasbüschel auszureißen und an den Neubau des Berliner Arztes zu schleudern. Im Dorf wurde erzählt, dass dieser Berliner Arzt daran schuld sei, dass sein Nachbar senior im Krankenhaus starb.
Der Kinderfreund
Manchmal stieg er auf eine Leiter und zog die Folie zurecht, mit der er das Schilfdach des Badehauses im letzten Herbst abgedeckt hatte. Von der Seeseite her hatte das Dach begonnen zu faulen. Hätte sein Vater ihn damals nicht von der Baustelle schnell nach Hause geschickt, um Bier zu holen, wäre er nicht dort entlang gekommen, wo sie mit ihrem Vater in der Böschung Himbeeren pflückte. Von da an hatte das Leben dann so seinen Verlauf genommen.
Als René seiner Cousine Nicole das, was diese noch nicht wusste, erklärte, und sie darauf Nein sagte, und dann immer und immer wieder Nein sagte, während René sie festhielt und ihre Beine mit seinem Leib auseinanderdrängte, da schauten er und sie noch immer durch die kleinen Spalte zwischen den Scheiten. Erst war es zu früh gewesen, hervorzubrechen, und dann zu spät. Dass man an einem Ort durch gemeinsame Gier und Scham gründlicher festgeknüpft wird als durch gemeinsames Glück, das hätte er gern niemals gelernt.
Der Gärtner
Als die Hausherrin aus Berlin kam, um das Haus für den Investor zu räumen, war der Gärtner nicht da. In seinem Zimmer standen wie sonst Tisch, Stuhl und Bett, einige Kleidungsstücke waren über Haken geworfen, nur der Gärtner selbst war nicht da. Gemeinsam mit der Hausherrin und ihrem Freund suchten die Unterpächter das ganze Grundstück ab. Der Gärtner wurde seitdem nicht wieder gesehen. Zwei Monate später stimmten die Hausherrin und ihr Vater zu, das Zimmer des Gärtners durch eine Mauer vom Haupthaus zu trennen.
Die unberechtigte Eigenbesitzerin
Klagend: Herausgabe und Räumung des Grundstücks, des Hauses, gegen geleistete Ausgleichszahlung. Widerklagend. Unmittelbarer Besitz heißt: Derjenige hat Gewalt über eine Sache. Mit der Erfüllung des vorliegenden Vergleichs sind alle Ansprüche aus dem Rechtsstreit bezüglich des Streitgegenstandes abgegolten.
Und jetzt wollte sie noch einmal ins Haus gehen. Mit dem Schlüssel, der noch immer an ihrem Schlüsselbund hing, wollte sie noch ein letztes Mal die Tür aufschließen. Die bemalte Tür zur Besenkammer war ausgehängt, deshalb war das erste, was sie sah, nicht der Garten Eden in zwölf quadratischen Kapiteln, sondern ein alter Besen, ein Handfeger, eine Schaufel und ein paar Lappen.
Sie gewöhnte sich an, ihr Auto oben am Rand der Chaussee zu parken, von dort ging sie den Schäferberg abwärts, zwischen Gestrüpp und Himbeerbüschen wand sie sich hindurch. An dem Morgen, an dem die Maklerin zum ersten Mal mit Kundschaft ins Haus kam, war sie zum Glück noch nicht aufgestanden, sondern schlief noch im Schrank. Viele Male noch sah sie vom Vögelchenzimmer aus die Maklerin mit dieser oder jener Kundschaft im Garten.
Sie hörte die Autotüren der neuen Eigentümer draußen auf dem Sandweg zuschlagen. Diesmal musste die Maklerin nicht mehr mit der Kundschaft durchs Haus gehen. Die neuen Eigentümer und ihr Architekt betraten das Haus nicht mehr, sie gingen über die große Wiese und deuteten von dort aus erst auf den See, dann auf das Badehaus und schließlich auf den Platz, auf dem das Haus stand.
Epilog
Bei diesem Abriss waren zwei Dinge von größter Bedeutung. Zum einen war jede Abrißfirma verpflichtet, vor dem Abriß eines Hauses alles, was an Einbauten da war, herauszureißen und selektiv zu entsorgen. Zum zweiten ging es darum, den Abriß möglichst erschütterungsarm vorzunehmen, um die Umweltbelastung durch Staub und Lärm zu vermindern.
Zwei Wochen lang arbeiteten erst fünf, später drei Männer auf dem Grundstück. In den Pausen saßen die Männer im Gras, um zu essen oder zu trinken, manche von ihnen lehnten an dem oder jenem Baum und rauchten und blickten dabei auf den See. Als sie mit dem Abbruch des Hauses fertig waren, und nur noch eine Grube an den Platz erinnerte, auf dem vorher das Haus stand, sah das Grundstück auf einmal viel kleiner aus. Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden würde, glich die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.